Multimodale Schmerztherapie
Die multimodale Schmerztherapie ist interdisziplinär, setzt verschiedene Strategien gleichzeitig und nicht nacheinander ein und ist individuell auf die Erfordernisse des einzelnen Patienten zugeschnitten. Maßgeschneiderte Therapien sind der konventionellen Behandlung „von der Stange“ überlegen. Ein erfahrenes Team aus Fachärzten, Psychologen, Physiotherapeuten, Krankenschwestern, Gestaltungstherapeuten kombiniert schulmedizinische Behandlungsmethoden sinnvoll mit komplementären Therapien wie Naturheilverfahren und Akupunktur.
Das therapeutische Konzept des Schmerztherapiezentrums Bad Mergentheim stützt sich auf einen ganzheitlich-integrativen Ansatz. Die Basis unseres Handelns bildet ein bio-psychosoziales Krankheitsmodell, auf dem die Gewichtung somatischer, psychischer und sozialer Einflussfaktoren für den Krankheitsverlauf wie auch den Prozess der Gesundung gründet. Für jeden Patienten wird ein individueller Behandlungsplan entworfen, der die genannten Einflussfaktoren berücksichtigt. Unser Vorgehen ist dabei zielgerichtet und ressourcenorientiert und setzt die aktive Mitwirkung des Patienten sowie die Transparenz der diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen voraus.
Kriterien der Patientenauswahl
Grundsätzlich ist die Indikation zur interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie bei zwei Gruppen von Schmerzpatienten zu sehen, bei deren Behandlung unterschiedliche Therapieziele verfolgt werden:
- Zur ersten Gruppe gehören Patienten mit rezidivierenden oder anhaltenden Schmerzen, die sich noch am Beginn des Chronifizierungsprozesses befinden, aber ein erhöhtes Risiko zur Chronifizierung aufweisen. Diese Patienten sollten möglichst frühzeitig im Krankheitsverlauf identifiziert werden. Das Behandlungsziel besteht hier darin, eine mögliche Chronifizierungskarriere zu vermeiden oder zumindest zu verzögern.
- Die zweite Gruppe sind Patienten, die sich bereits in einem höheren Chronifizierungsstadium befinden und bei denen eine mono- oder multidisziplinäre Behandlung im ambulanten Sektor nicht zum Erfolg geführt hatte.
Fortgeschrittene Chronifizierung
Aktuelle Studienergebnisse zeigen, dass höher intensive Therapieprogramme wirksamer sind als kurzdauernde Programme mit wenig Therapieintensität. Obwohl die Wirksamkeit dieses Therapiekonzeptes gegenüber monodisziplinärem Vorgehen vor allem bei höher chronifizierten Schmerzerkrankungen wiederholt nachgewiesen wurde, stehen für Patienten mit chronischen Schmerzen, bei denen der Schmerz eigenständigen Krankheitswert erreicht und zu psychosozialen Veränderungen geführt hat, in Deutschland immer noch zu wenige multidisziplinär besetzte Therapieeinrichtungen zur Verfügung – auch auf der stationären Versorgungsebene.
Das Gesamtpaket der Multimodalen Schmerztherapie ist somit mehr als die Summe seiner einzelnen Teile. Empirische Studien zeigen, dass die Einzelbausteine der multimodalen Behandlung weniger wirksam sind als die Gesamtbehandlung.
Chronische Schmerzen gehen häufig mit einem Rückzug von körperlichen und sozialen Aktivitäten (Schonhaltung, Isolation) sowie weiteren dysfunktionalen Mustern der Schmerzbewältigung (Hilflosigkeit, Katastrophisieren u. a.) einher. Diese Faktoren verstärken die Schmerzen und fördern die Chronifizierung.
Ziel der Multimodalen Schmerztherapie (MMST) ist daher neben der Schmerzlinderung und der Förderung eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses die Verbesserung der objektiven und subjektiven Funktionsfähigkeit („functional restoration“), im Einzelnen:
- die physische und psychische (Re-) Aktivierung (Reduktion von Schonhaltung und sozialem Rückzug),
- die Motivation zu einem selbstverantwortlichen Krankheitsmanagement,
- die Reduktion dysfunktionaler Muster der Schmerzbewältigung,
- das Erkennen und die Reflexion schmerzverstärkender bzw. vermindernder Faktoren unter Einschluss des zwischenmenschlichen Erlebens und Verhaltens (dies schließt habituelle Muster, problematische Denkschemata wie auch Verhaltenseigenschaften ein),
- die Förderung einer positiven Körperwahrnehmung,
- das Herstellen einer besseren Balance von Anspannung und Entspannung sowie von Be- und Entlastung (Belastungsdosierung),
- die Vermeidung von Überforderung durch verbesserte Wahrnehmung von Leistungsgrenzen (physisch und psychisch),
- die Harmonisierung vegetativer Dysfunktionen (Schlaf, biologische Rhythmen),
- die Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit in den Bereichen Koordination, Beweglichkeit, Kraft und Ausdauer,
- die Förderung des Erkennens und das Stärken eigener Ressourcen (somatisch, intrapsychisch, zwischenmenschlich, sozial) und
- das Beachten lebensgeschichtlicher Ereignisse (u. a. Traumatisierungen) und Entwicklungen für die Klärung der Schmerzbewältigung und Schmerzgenese; die Vermeidung einer Retraumatisierung ist dabei Aufgabe des gesamten Behandlungsteams.
Goldstandard der Versorgung
Für die Therapie chronischer Schmerzpatienten ist die Multimodale Schmerztherapie der Goldstandard der Versorgung. Deren Effektivität hängt von der Behandlungsintensität ab, welche durch die Zahl der Behandlungseinheiten und durch die Behandlungsqualität bestimmt wird. Beide hängen von der Aufenthaltsdauer ab. Im Schmerztherapiezentrum Bad Mergentheim liegt die Behandlungsdauer bei mindestens drei Wochen. So ist es möglich, eine chronische Schmerzerkrankung nachhaltig zu behandeln.
Das Gesamtpaket der Multimodalen Schmerztherapie ist somit mehr als die Summe seiner einzelnen Teile. Empirische Studien zeigen, dass die Einzelbausteine der multimodalen Behandlung weniger wirksam sind als die Gesamtbehandlung.
Behandlungskonzept Multimodale Schmerztherapie
Experten-Interview mit Dr. Martin Krumbeck
Was tun, wenn die ambulante Behandlung nicht mehr hilft?
Schätzungen zufolge leiden zwischen 8 und 16 Millionen Deutsche unter chronischen Schmerzen. Für die Betroffenen bedeutet dies nicht nur, ständig Medikamente einnehmen zu müssen, die Erkrankung stellt auch eine Einschränkung der Lebensqualität sowie eine psychische Belastung dar. Dr. Martin Krumbeck, Chefarzt des Schmerztherapiezentrums Bad Mergentheim, erläutert, welche Möglichkeiten die stationäre multimodale Behandlung bietet.
Dr. Krumbeck, wann sollten sich Schmerzpatienten in stationäre Behandlung begeben?
Dafür gibt es verschiedene Kriterien, beispielsweise, wenn die verordneten Medikamente keine ausreichende Schmerzlinderung mehr bewirken, wenn Schwierigkeiten bei der Schmerzbewältigung bestehen oder wenn psychische Symptome wie Depressionen, Angstzustände oder Burn-out hinzukommen. Die in solchen Fällen notwendige qualifizierte interdisziplinäre Therapie ist in der Regel im ambulanten Bereich nicht möglich.
Das Schmerztherapiezentrum Bad Mergentheim hat sich auf die multimodale Schmerzbehandlung spezialisiert. Was muss man sich darunter vorstellen?
Die multimodale Therapie ist eine interdisziplinäre Methode, bei der verschiedene Fachbereiche, also Ärzte, Physio- und Ergotherapeuten, Psychologen, Sozialdienst und Pflegekräfte, eng miteinander zusammenarbeiten. Wir Ärzte behandeln mindestens einmal täglich jeden Patienten und stimmen dabei mit ihm das Therapiekonzept ganz individuell auf seine Bedürfnisse ab. Dieses ist sehr wichtig, da jeder Mensch unterschiedlich auf die Behandlungen reagiert. Einmal pro Woche besprechen wir im gesamten Team, welche Maßnahmen für jeden einzelnen Patienten notwendig und sinnvoll sind. Dabei werden schulmedizinische Methoden mit Naturheilverfahren kombiniert.
Können Sie dieses Konzept etwas detaillierter beschreiben?
Ja, gerne. Zum einen ist es wichtig, die Schmerzen mithilfe von Medikamenten so zu reduzieren, dass Krankengymnastik und Ergotherapie überhaupt möglich sind. Eine besondere Kompetenz unserer Klinik sind Schmerzkatheter, über die der Schmerz ausgeschaltet und die Stoffwechsellage verbessert wird. Dadurch sind physiotherapeutische Behandlungen und Ergotherapie oft erst möglich. Diese zielen vorrangig auf eine Verbesserung der schmerzfreien Bewegungsmöglichkeiten sowie auf eine verbesserte Körperwahrnehmung ab. Neben den klassischen Verfahren kommen auch sanfte Methoden wie Craniosacraltherapie, Feldenkrais oder Qi Gong zum Einsatz.
Welche Rolle spielt die Psyche bei Schmerzpatienten?
Eine sehr wichtige, denn chronische Schmerzen belasten immer auch die Psyche. Daher legen wir großen Wert auf die Schmerzpsychotherapie. Wir vermitteln dem Patienten Strategien, mit deren Hilfe er trotz seiner Erkrankung ein erfülltes Leben führen kann. Auch kann man beispielsweise durch Biofeedback lernen, schmerzhaften Verspannungen bewusst entgegen zu steuern.
Sie kombinieren Schulmedizin und Naturheilverfahren. Sind das nicht eigentlich gegensätzliche Methoden?
Von ihrem Ansatz her sind Schulmedizin und Naturheilkunde sicherlich unterschiedlich. Die Schulmedizin ist oft vorwiegend symptomorientiert, während die komplementären Verfahren darauf abzielen, die Selbstheilungskräfte anzuregen und die eigene Kompetenz zu fördern. In der Schmerztherapie lassen sich diese beiden Methoden sehr gut kombinieren, um unser Ziel zu erreichen: die Patienten auf körperlicher und geistiger Ebene zu befähigen, trotz ihrer Erkrankung ein lebenswertes Leben zu führen.
Die privaten Krankenkassen und die Beihilfe übernehmen die Behandlungskosten der multimodalen Schmerztherapie im Rahmen einer medizinisch notwendigen stationären Heilbehandlung, wenn der Versicherer dies vor Beginn der Behandlung schriftlich zugesagt hat.
Störungsadäquate Verweildauer
Bei chronischen Schmerzpatienten ist oft eine stationäre multimodale Schmerztherapie medizinisch begründet. Das Schmerztherapiezentrum Bad Mergentheim führt als Fachklinik für Spezielle Schmerztherapie und Schmerzpsychotherapie seit vielen Jahren erfolgreich multimodale Behandlungen bei somatoformen Schmerzstörungen, chronischen Schmerzkrankheiten mit somatischen und psychischen Faktoren und Schmerzerkrankungen mit einer psychischen Komorbidität durch.
Neben den spezifischen Behandlungselementen gehört dazu auch eine störungsadäquate Verweildauer, die sich an der psychosomatischen stationären Versorgung orientieren muss. Dann entsteht ein messbarer Mehrwert für Patienten und Kostenträger, weil die Patienten
- oft deutlich weniger Schmerzen haben
- einen Einblick in ihre seelisch-körperliche Schmerzdynamik haben
- eine bessere körperliche Leistungsfähigkeit erreicht haben
- ihr Leben in allen Bereichen besser handhaben können
- hilfreiche Übungen für zu Hause erlernt haben
- besser mit den verbleibenden Schmerzen und Einschränkungen umgehen können
- mehr Freude am Leben haben (bessere Lebensqualität)
Gründe, warum eine stationäre Schmerztherapie bei chronischen Schmerzpatienten in etwa eine Dauer von 3 – 4 Wochen haben sollte:
- Bei chronischen Schmerzpatienten kommt es zu einer Überempfindlichkeit (Wind up) im Schmerzsystem. Dieses bedeutet konkret, dass sich die schmerzleitenden Nerven anatomisch umbauen und dadurch überempfindlich werden. Eine Rückbildung dieser Überempfindlichkeit wird durch wiederholtes Betäuben der Nerven (auch mit Katheterverfahren) erreicht. Die Rückbildung der Wind up-Phänomene ist aber nur möglich, wenn die Dauer der Behandlung mindestens 4 – 6 Wochen beträgt.
- Bei einem chronischen muskulär bedingten Schmerzsyndrom ist erst eine Entspannung der tiefen Muskulatur notwendig. Diese befindet sich häufig im „Teufelskreislauf“ „Schmerz-Verspannung“ fixiert, der reflektorisch abläuft. Oft kann nur eine immer wiederkehrende Kombination aus Krankengymnastik und Spritzentherapie mit einem örtlichen Betäubungsmittel aus diesem Kreislauf herausführen.
- Der Patient muss lernen, die Muskulatur selbst wieder wahrzunehmen und zu entspannen. Erst dann ist eine Koordinierung in Muskelketten und dann erst eine Kräftigung möglich. Hierzu ist ein längerer Zeitraum notwendig.
- Aus schmerzpsychologischer Sicht muss primär eine Diagnostik durchgeführt werden. Dann erst können therapeutische Schritte eingeleitet werden. Hierbei unterscheidet man zwischen allgemeinen Schmerzbewältigungsstrategien wie Entspannungsverfahren, Aktivitätsförderung, Genuss-Training, kognitiven Strategien, Achtsamkeitsübungen und individuell ausgerichteten Therapien. Letztere können u. a. Biofeedback, Selbsthypnose und Gesprächstherapien umfassen. Eine Therapie unter 4 – 6 Wochen ist in aller Regel sinnlos, da keine entsprechenden Veränderungen angebahnt werden können.
- Zu bedenken ist auch, dass insbesondere bei der psychotherapeutischen Therapie eine tragfähige Patienten-Therapeuten-Beziehung aufgebaut werden muss.
- Da es sich um eine interdisziplinäre Behandlung handelt und die Patienten oft psychisch und körperlich erheblich eingeschränkt sind, kann eine gewisse Therapiedichte nicht überschritten werden. Alle Therapien müssen wirken und im positiven Sinne seelisch und körperlich verarbeitet werden, um entsprechende Veränderungen langfristig möglich zu machen.
- Für eine Dauer von 3 – 4 Wochen spricht auch die Erfahrung, die wir in den letzten 30 Jahren gemacht haben.